Fehlender Sicherheitsabstand ist eine der Hauptursachen für Unfälle. Je höher die Geschwindigkeit, desto länger der Bremsweg. Wer seinem Vordermann an der Stoßstange klebt, hat im Zweifel keine Chance mehr zu reagieren. Trotzdem scheint es eine große Gruppe im Straßenverkehr zu geben, die diese Einsicht nicht haben: die Drängler. Wer aus ihrer Sicht die freie Fahrt behindert, wird oftmals Opfer von Aggression im Straßenverkehr. Bremsweg-Regeln aus der Fahrschule scheinen für sie keine Gültigkeit zu haben. Sie meinen mit ihrem Fahrverhalten langsamen Fahrern Druck machen zu dürfen.
Stefan Swat ist Verkehrstherapeut und Coach. Im Bereich MPU-Beratung / MPU-Vorbereitung begleitet er seine Klienten auf dem nicht immer leichten Weg zur positiven MPU. Als Fachliche Leitung von shift coaching in Düsseldorf konzipiert er wirksame Programme nach neuesten psychologischen und soziologischen Erkenntnissen. Neben Verkehrsthemen verhilft er seinen Klienten auch in den Lebensbereichen Familie, Partnerschaft und Beruf zum entscheidenden shift in ihrem Veränderungsprozess.
Drängeln – was steckt dahinter?
Aus verkehrspsychologischer Sicht ist es zunächst hilfreich, den Straßenverkehr als soziales Miteinander zu sehen. Für die Sicherheit aller Beteiligten wäre es am sinnvollsten, wenn wir alle uns sozial fürsorglich auf der Straße verhalten würden. Nicht ohne Grund lautet daher der berühmte erste Paragraph der Straßenverkehrs-Ordnung (§ 1 StVO): „Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht. Wer am Verkehr teilnimmt hat sich so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.“ Schon eine kurze Autobahnfahrt lässt den Gedanken aufkommen, dass diese Regel vielen anscheinend nicht bekannt ist.
Die Anonymität im Auto ist ein Phänomen, das sich auf das soziale Miteinander auswirkt. Es scheint so zu sein, dass egoistische Anteile stärker werden, wenn die soziale Verbundenheit sinkt. Das Phänomen kennt jeder von öffentlichen Toiletten: Je mehr Menschen diese benutzen, desto eher werden einzelne sich sicherer fühlen mit ihrem unsozialen Verhalten der Verdreckung ohne Konsequenzen durchzukommen. Im Auto fühlt sich erstmal jeder für sich allein. Wir müssen den anderen nie direkt in die Augen sehen – das kann sich auf unser Verantwortungs- und Mitgefühl auswirken.
Drängler sehen sich zuerst – kein sehr nachhaltiger Gedanke
Interessant ist auch der Konkurrenzgedanke in Bezug auf vermeintlich knappe Ressourcen. Sobald etwas knapp ist, werden egoistische Verhaltensweisen erkennbar. Wer erinnert sich nicht an die Hamsterkäufe von Klopapier und Nudeln in der Corona-Pandemie? Im Straßenverkehr ist die knappe Ressource der verfügbare Platz auf der Straße und die Fahrtzeit. Drängler beanspruchen mehr Raum als ihnen zusteht und möchten ihr Tempo durchsetzen. Drängeln geschieht aus der Vorstellung heraus, schneller ans Ziel zu kommen. Dabei ist meist das Gegenteil der Fall. Wenn sich alle Verkehrsteilnehmer rücksichtsvoller verhalten, gibt es weniger Unfälle, weniger Staus, und alle sind schneller am Ziel. „Ich zuerst“ scheint ein menschlicher Trieb zu sein. In der Steinzeit mag der Kampf um das letzte Stück Fleisch, überlebenswichtig gewesen sein, in einer modernen Gesellschaft ist ein Miteinander zielführender.
Drängler – wie verhalte ich mich richtig?
Das Verständnis für die psychologischen Phänomene beim egoistischen Verhalten im Straßenverkehr kann hilfreich sein, die stressige Situation souverän zu meistern. In allen Verkehrsratgebern steht deswegen immer ganz vorne ein Hinweis wie „Bleiben Sie ruhig und gelassen, wenn Sie von einem Drängler bedrängt werden.“
Leichter gesagt als getan. Denn auch in unserem Gehirn steckt noch ein kleiner Urmensch, dessen Kampfeslust vielleicht durch die Situation angefacht wird. Das gilt es zu vermeiden. Stattdessen sollten wir besser die Haltung des vernunftbegabten Menschen des 21. Jahrhunderts einzunehmen.
Steinzeit vs. Vernunft
Es kann sinnvoll sein, sich vor Fahrtantritt bereits dieses Phänomens bewusst zu werden: Ich kann mir zum Beispiel die beiden inneren Anteile von mir als witzige Comicfiguren vorstellen: den Steinzeit-Egoisten und den Vernunftbegabten. Und dann kann ich mir vornehmen, in Stresssituationen – bedrängt von lauter rasenden Neandertalern, die gerade erst das Rad erfunden haben – meinen inneren Vernunftbegabten sicher und souverän das Steuer führen zu lassen. „Sollen sich die anderen kloppen, ich stehe da drüber.“ Wenn das Bild witzig und ausdrucksstark genug ist, werde ich es in stressigen Momenten leichter erinnern und kann danach handeln. So kann es gelingen, eigene Provokationen wie das bekannte Antippen der Bremse oder das bewusste Ausbremsen zu vermeiden.
Drängler – ein Egoist reicht
Diese Art von „Gegenangriff“ führt zum, aus der Fahrschulzeit bekannten, Kreislauf der Kränkungen. Der Konflikt führt hier jedoch nur zu gefährlichen Situationen führen. Unser Job als Autofahrer ist es, trotz der Provokation vernünftig und risikobewusst zu bleiben. Wenn es möglich ist, lasse ich also den Drängler überholen und ordne mich danach wieder ein. Auf der linken Spur fahre ich nur, wenn ich überhole. Ich halte den notwendigen Abstand (die alte Faustregel: „halber Tacho“ – Geschwindigkeit in km/h durch 2 teilen = Sicherheitsabstand in Metern) ein und fahre vorausschauend. Mein Fahrlehrer wäre stolz auf mich.
Drängeln – die Strafen drohen bei aggressivem Fahren
Drängeln im Straßenverkehr ist eine Straftat und kann als Nötigung gemäß § 240 des Strafgesetzbuches (StGB) geahndet werden. Die Strafen können eine Geld- oder Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren, drei Punkte in Flensburg, ein Fahrverbot zwischen einem und drei Monaten und schlimmstenfalls der Führerscheinentzug sein. Darüber hinaus kann dem verurteilten Autofahrer die Fahrerlaubnis entzogen werden, insbesondere bei Mehrfachauffälligkeit. Den Führerschein bekommt er dann nur zurück, wenn er durch eine Medizinisch-Psychologische Untersuchung (MPU) nachgewiesen hat, dass er sein Fehlverhalten reflektiert und nachhaltig verändert hat.
Gerichtsurteile sprechen bei dichtem Auffahren von Nötigung, wenn der Vorgang von „einiger Dauer und größerer Intensität“ ist. Dazu gehört dichtes Auffahren für eine längere Zeit oder das Verkürzen des Abstands auf unter einen Meter. Aber: Auch Ausbremsen und absichtlich langsames Fahren zählen als Nötigung und können bestraft werden.
Wer sich genötigt fühl, kann sich das Kennzeichen notieren und den Drängler anzeigen. Dem notorischen Drängler drohen dann scharfe Konsequenzen. So ist der innere Vernunft-Anteil beruhigt, dass staatliche Maßnahmen für mehr Sicherheit im Straßenverkehr sorgen. Und der innere Steinzeitmensch freut sich, dass dem egoistischen Drängler eins mit der Bußgeld-Keule übergebraten wird. Und mich kann es daran erinnern, zu welcher Sorte von Fahrern ich gern gehören möchte.
Fazit: Drängeln – nicht nur gefährlich, sondern auch strafbar. Am meisten hilft: kühlen Kopf bewahren.
Durchatmen, aufmerksam fahren und die Weisheit „der Klügere gibt nach“ befolgen. Denn wer mit Ausbremsen oder gezieltem langsamen Fahren reagiert, begeht ebenso eine mögliche strafbare Nötigung wie der Drängler. Also: Nicht dem Steinzeit-Instinkt nachgeben, sondern ruhig bleiben. Wer sich übermäßig genötigt fühlt, kann über das Kennzeichen Anzeige erstatten und sich so – im Rahmen der Gesetzgebung – revanchieren.